Schleichend und unerwartet - so wie die Krankheit auch - hat die Alzheimer-Demenz unserer Mutter mein Leben für immer verändert. Keiner kann sagen, wann sie begann, die Katastrophe "Demenz" in unserer Familie. Bei einem Kaffeetrinken zuhause vor vielen Jahren bemerkte meine Nichte: "Und wenn das jetzt Alzheimer ist?" In die danach eintretende, nachdenkliche Stille antwortete unser Vater resigniert: "Selbst wenn... Da kann man dann doch sowieso nichts machen."
DAS WEBLOG
Unsere Mutter war zu dieser Zeit bereits seit Jahren auffällig. Zum ersten Mal bemerkten wir ihre Konzentrationsschwäche an einem Großeltern-Kind-Nachmittag im Kindergarten. Sie konnte einem Spiel nicht mehr folgen, obwohl sie von Jugend an in ihrer Freizeit immer gerätselt und Karten gespielt hatte. Damals haben mein Vater und ich uns fragend angesehen und wortlos wurde uns klar, dass da was nicht mehr stimmte. Drei Jahre später, an ihrer goldenen Hochzeit, haben wir die Wortfindungsstörungen und Fassadenbildung als solche nicht erkannt, sondern belächelt und verdrängt. Bagatellisiert haben wir die Symptome und als "normale" Altersschwäche abgetan. "Verkalkung" halt.
Ganz offensichtlich nicht mehr alltagsfähig, musste sie ein Jahr später wegen einer Operation ins Krankenhaus. Schon bei der Einweisung war sie nervös, unsicher und unfähig, Angaben zur eigenen Anamnese zu machen. Nach der Operation war sie schließlich völlig hilflos, hat uns immer wieder angefleht, wir sollten sie abholen. Sie hatte Angst und konnte damit nicht mehr umgehen, sie hat optisch halluziniert, hat Scherben auf dem Fußboden gesehen und Tote auf der Fensterbank. Der Anästhesist fragte meine Schwester und mich, ob sie verwirrt sei. Und wir haben selbst da noch vehement verneint, sie sei für ihr Alter üblich altersvergesslich, mehr nicht. Zur Entlassung sagte der behandelnde Krankenhausarzt, sie könne fortan nicht mehr selbständig alleine leben. Ohne Angabe einer Diagnose, ohne Therapievorschlag wurden wir uns selbst überlassen.
Aber Recht sollte er behalten mit seiner Prognose, denn das Krankheitsbild verschlechterte sich drastisch. Als Familie haben wir in den folgenden Jahren einen typischen Verlauf einer Alzheimer-Demenz gemeinsam erlitten, ausgehalten und durchkämpft bis zum Tod unserer Mutter - und darüber hinaus.
Dass ich dabei die Bezugsperson meiner eigenen Mutter wurde, hat sich mehr oder weniger zufällig so ergeben – ich war gerade arbeitslos geworden und hatte die Zeit und Möglichkeit, meine eigene Mutter zuhause zu bemuttern. Das brachte mich in ständigen Zwiespalt mit meiner eigenen Mutterrolle. Vielleicht hätte eine Supervision unserer Großfamilie damals etwas helfen können, mit dieser Wucht an Problemen und unterschiedlichen Sichtweisen gemeinsam besser fertig zu werden – so was wie ein Coaching für Familien mit Demenz.
Vielleicht war diese durchlebte und überstandene Not mit ein Auslöser, mich später professionell der Herausforderung Demenz zu stellen und dabei immer wieder erklären zu wollen und zu müssen, dass man sehr wohl noch etwas machen kann. Sicher waren auch ganz pragmatische Gründe relevant, etwa die Tatsache, dass ich mit Ende Vierzig nicht mehr gut vermittelbar war auf dem Arbeitsmarkt und mir eine Umschulung zur Altenpflegerin nahe gelegt wurde.
Doch es ist wie es ist und es ist gut so. "Das Herz wird nicht dement", sagt man – und das Herz unserer Mutter hat mich bis zu ihrem letzten Atemzug eine ungewöhnlich intensive Liebe und Dankbarkeit erleben und spüren lassen.
Informationen zur Autorin:
Maria Tölle lebt in Ostwestfalen-Lippe, ist verheiratet und Mutter einer erwachsenen Tochter. Sie arbeitet als freiberufliche Altenpflegerin für den Verein Alt und Jung Süd-West e. V. im "Bielefelder Modell" und ist dort neben ihrer Pflegetätigkeit mitverantwortlich für die besondere Betreuung von Menschen mit Demenz. Als Kursleiterin Pflege schult und begleitet sie Ehrenamtliche, Angehörige und Pflegekräfte. Maria Tölle hat vor ihrer Ausbildung zur examinierten Altenpflegerin jahrelang ihre an Alzheimer-Demenz erkrankte Mutter zuhause gepflegt und betreut.
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