Warum sie mir überhaupt auffiel und aus welchem Grund ich der zierlichen alten Dame spontan einige Minuten auf dem Gehweg folgte, bevor ich sie schließlich ansprach, das weiß ich nicht mehr genau. Irgendetwas an ihr machte mich stutzig und weckte eine Art Beschützerinstinkt. Nieselregen hatte eingesetzt, das Wetter hatte sich in den letzten Novembertagen merklich abgekühlt. Einen Regenschirm hatte sie nicht dabei, eine Handtasche ebenfalls nicht.
DAS WEBLOG
Später erfuhr ich von der Polizei, dass Maria Müller*, 86 Jahre alt, mit gepflegten, schneeweißen Haaren, wohl schon seit mehr als zwei Stunden in der Stadt umhergeirrt war. Im Pflegeheim, wo sie seit einigen Wochen lebte, vermisste man sie bereits und suchte nach ihr – im ganzen Haus, im nahe gelegenen Park, eine Mitarbeiterin vom Sozialdienst fuhr die Straßen ab und zwei Mitarbeiter des Pflegedienstes durchforsteten zu Fuß die beiden unmittelbar angrenzenden Krankenhäuser.
Ich sprach die alte Damen sanft an, fragte sie, ob ich ihr helfen könne. Sie schaute mich erst misstrauisch, dann verwirrt an, bevor sie nach meinem Arm griff und mit vorwurfsvollem Unterton antwortete: "wo warst du denn so lange, ich warte doch auf dich! Mir ist kalt." Und sie begann leise zu weinen.
Spontan nahm ich sie in meine Arme und hielt sie einfach einen Moment lang. Eine solche Situation war mir nicht unbekannt: Als mehrfache Mutter fühlt es sich ähnlich an, wenn sich eines der Kinder beim Einkauf im Supermarkt davon macht und nach endlos erscheinenden Minuten schließlich einige Regale weiter bei den Süßigkeiten wieder auftaucht. Doch dieser sich nun fühlbar entspannende Mensch war nicht eins meiner Kinder, sondern eine fremde alte Dame, für die ich irgendeine sinnvolle Lösung finden musste.
Zuerst einmal ins Warme, dachte ich. Und sagte ihr, dass wir jetzt eine schöne Tasse Kaffee trinken würden nach der langen Zeit unterwegs. Meine kurzzeitige "Adoptiv-Oma" lachte bereits wieder und schien mit der Welt zufrieden. "Ja Kind", sagte sie, hakte sich bei mir unter und gemeinsam gingen wir in das nächste Café.
Beim Kaffeeklatsch plaudern über Tante Ingrid und Opa Heinrich
Während sie sich den Kaffee und die Kekse sichtlich schmecken lies, munter drauf los plaudernd, rief ich per Handy die nächste Polizeidienststelle an: Ja, man habe bereits eine Vermisstenanzeige eines Seniorenheimes in der Nähe vorliegen. Die alte Dame sei dement und habe wohl den Weg zu ihrem früheren Zuhause gesucht. Dabei war sie irgendwie unbemerkt am Pförtner und an der Videoüberwachung des Pflegeheims vorbei gekommen. Man würde nun einen Streifenwagen vorbei schicken und Frau Müller abholen.
Solange konnten wir in Ruhe den Kaffee austrinken und uns ein wenig unterhalten – auch wenn ich im Grunde nicht verstehen konnte, was sie mir da über Opa Heinrich und Tante Ingrid erzählte. Es reichte aber wohl aus, ihr lächelnd zuzuhören, ab und an zu nicken und mit einem "Ach ja?" zu antworten.
Schließlich kamen zwei Polizeibeamte in das Café. Ich ging mit ihnen zu Frau Müller und sagte ihr mit einem Lächeln, dass man sie nun nach Hause bringen würde, damit sie sich etwas ausruhen könne. Und ich sagte ihr, dass ich noch Milch einkaufen müsse, aber dann auch nach Hause kommen würde. Sie schien damit zufrieden und verließ nach einer kurzen Umarmung mit den beiden Beamten das Café. Ich blieb noch eine ganze Weile dort sitzen, nachdenklich und ein wenig wehmütig. Die Begegnung mit der alten Dame war mir nahe gegangen.
Seither gehe ich mit noch offeneren Augen und Blicken durch die Stadt und bin noch ein Stück sensibler geworden für die alten Menschen, die mir auf der Straße oder im Supermarkt begegnen.
*Die Autorin hat den Namen der alten Dame geändert.
Informationen zur Autorin:
Bernadette Engelhardt (Kulturgeragogin (FH)) ist unter anderem als zertifizierte Betreuungsassistentin in verschiedenen Einrichtungen der Altenpflege tätig. Freiberuflich arbeitet sie zusätzlich als Beraterin und Betreuerin für Menschen mit Demenz und deren Angehörige, sowie als Autorin und Projektleiterin. Seit August 2012 ist sie zusätzlich tätig als "Botschafterin" für die bundesweite Kampagne Konfetti im Kopf. Nach mehreren Ausbildungen absolvierte sie weitere Fortbildungen und Ehrenämter im sozialpädagogischen und psychologischen Bereich. Bernadette Engelhart lebt in Bonn.
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