Andrea Stix Wer bist du (ohne Demenz)?

So einfach diese Frage ist, so unterschiedlich sind doch die Antworten.

Mir ist noch kaum jemand begegnet, der auf diese Frage tatsächlich eingegangen ist. Also über sich selbst erzählt hat, was ihn als Mensch bewegt, wo seine Talente und Schwachstellen liegen, welche Träume und Sehnsüchte er hat, worüber er sich freuen kann oder weshalb er traurig ist.
Ich will mit einer wahren Begebenheit zeigen, dass es sich lohnt, den ganz persönlichen Menschen, der hinter einer Demenzerkrankung steckt, kennenzulernen:

Mein erster Besuch bei Herrn Gruber (Hinweis der Autorin: Name wurde aus Datenschutzgründen geändert). Alles was ich wusste war, dass er aufgrund seiner Demenz nicht mehr alleine leben konnte. Einer der Pfleger, mit denen sich Herr Gruber (wie mir sein Neffe sagte) in der Zwischenzeit abgefunden hatte, öffnete mir die Tür und führte mich ins Wohnzimmer.
Herr Gruber versuchte von seinem bequemen Sessel aufzustehen, um mich zu begrüßen. Um ihm die Anstrengung zu ersparen, setzte ich mich in den Sessel, der ein Stück weiter weg stand und nahm seine Hand, die er mir entgegenstreckte. Dabei sah ich die Verzweiflung in seinen Augen: „was will die Frau hier; wahrscheinlich schon wieder jemand, der mir sagen wird, was ich tun oder lassen soll.“

Der Pfleger stellte uns beiden ein Glas Wasser hin und ging einkaufen. Und ich? Ich verbrachte die nächsten Minuten damit, um mit Herrn Gruber stumm auf den Fernseher zu schauen, wo gerade eine Sendung über Brauchtum gezeigt wurde. Damit wollte ich einerseits erreichen, dass sich Herr Gruber entspannt und andererseits wollte ich mich in seine Schuhe begeben, um ihn besser zu verstehen.

Wäre ich damals nach Äußerlichkeiten gegangen, dann hätte mich vielleicht auch sein Bart gestört und so wie der Pfleger ihn ständig ermahnt, sich doch endlich rasieren zu lassen. Und der Neffe, wenn er hier gewesen wäre, hätte auf den Onkel eingeredet, irgendeine Aktion zu setzen. Und es gibt wahrscheinlich noch andere Personen, die auf Herrn Gruber eingeredet haben, wie er denn sein soll und was er denn zu tun hat. Ich habe versucht ihn anzunehmen, so wie er jetzt im Moment ist.

Nach einigen Minuten tauchte auf dem Bildschirm eine Blasmusikkapelle auf und Herr Gruber, der bisher bewegungslos in seinem Sessel verharrte, begann seine Arme zu heben und mit zu dirigieren. Obwohl wir noch gar nichts gesprochen hatten, wusste ich bereits etwas von ihm: er liebte Musik.

Nach Ende des Musikstücks drehte ich den Fernseher ab und schaltete über meinen Laptop ähnliche Musikveranstaltungen ein. Ich rückte meinen Sessel näher an ihn heran, sodass er besser hören und auch mitschauen konnte. Wie gebannt starrte Herr Gruber nun auf meinen Bildschirm und auf einmal rief er laut aus „die gehen ja zurück!“. Tatsächlich hatte die Kapelle gerade in ihrer Formation ein paar Takte im Rückschritt absolviert, um mehr Punkte bei der Bewertung zu bekommen.

Jetzt war das Eis gebrochen! Ich spielte ihm nochmals ganz langsam diese Szene vor und erklärte dabei, weshalb die Musikanten tatsächlich retour marschierten. Die restliche Besuchszeit war dann den Musikinstrumenten gewidmet und als Abschluss haben wir dann gemeinsam im Walzertakt geschunkelt.

Menschen mit Demenz haben oft ein Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit. Und sie brauchen Menschen, denen sie vertrauen können. Dieser Prozess geschieht immer in der Innenwelt einer Person. Und dabei spielt auch die Haltung und Einstellung vom Gegenüber eine große Rolle. Nur eine respektvolle und wertschätzende Begegnung auf Augenhöhe ermöglicht, dass sich diese Personen – so wie Herr Gruber – öffnen können.
Diese ersten Minuten waren also entscheidend. Ich habe noch viele lebendige Stunden mit ihm verbracht. Was wiederum ein Beweis ist, dass Menschen trotz fortgeschrittener Demenz noch vieles können, wenn man es ihnen zutraut und sie lässt.